Zurück in die Zukunft - Eine Historia für die genossenschaftliche Idee im Finanzwesen
Key Facts
- Die 160-jährige Idee der Genossenschaft erfährt in ihren Grundgedanken der Verpflichtung auf und Mitbestimmung durch ihre Mitglieder eine Renaissance, die sich sowohl in den Mitgliederzahlen als auch im Auftreten der Genossenschaften widerspiegelt
- Genossenschaftliche Gedanken und -Werte konvergieren mit der gesellschaftlichen Werteentwicklung. Neben die Veränderung ideeller Werte tritt eine Veränderung der Lebensumstände, wie etwa das Erfordernis steigender Mobilität und der Trend zur Urbanisierung
- In der Genossenschaftlichen FinanzGruppe zeigt sich eine Unwucht in der Altersstruktur der Kunden zu Lasten der Jungen. Gepaart mit der Hausbankvererbung durch Elternteile und der ab 35 Jahren drastisch sinkenden Bereitschaft die Hausbank zu wechseln erscheint dies problematisch, da die Überalterung der Kundenstruktur perspektivisch zu einer schrumpfenden Kunden- und damit sinkenden Ertragsbasis führt
- Genossenschaftliches Finanzwesen als Breitenangebot muss eine höchst heterogene Kundengruppe (Alter, Einkommen, Lebenswelt) ansprechen. Hierzu ist ein breites Nutzenangebot notwendig
- Um das Potenzial aus der beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklung zu ziehen, sollten genossenschaftliche Werte und gesellschaftliche Entwicklungen im Geschäfts- und Produktmodell für Kunden verschiedener Altersklassen und Lebenswegen reflektiert werden. Die reine Fristentransformation im Banking stößt aufgrund des Niedrigzinsumfelds an ihre Leistungsgrenze
- Die Ausweitung der genossenschaftlichen Merkmale sollte im Kundennutzen durch wettbewerbsfähigen Technologieeinsatz optimiert werden. Filialen als Zwischentechnologie, um die Nähe zu den Kunden herzustellen und ihn mit Dienstleistungen zu versorgen, werden in Ihrer Bedeutung eine andere Rolle einnehmen
- Eine handlungsfähige Governance muss Bemühungen auf Ebene des Geschäftsmodells und Produktangebots und deren Realisierung durch Anwendung moderner Technologien unterstützen. Dies bedeutet eine konsequent marktkonforme sowie kompetenzbasierte Gestaltung von Entscheidungsprozessen und Umsetzungsgeschwindigkeiten. Qualität und Kosten des eigenen Angebots sollten einem Drittvergleich standhalten können
Die genossenschaftliche Idee im Finanzwesen fand ihren Ursprung im Jahre 1860 und geht auf die Herren Schulze-Delitzsch und Raiffeisen zurück. Genossenschaftsbanken sollten sich gegenüber ihren demokratisch mitbestimmenden Mitgliedern und ihren Werten verpflichten. In einer Zeit tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels, an der Schwelle von Agrar- zu Industriegesellschafft, wurde Bauern und Handwerkern so die Möglichkeit eröffnet, Produktion vorzufinanzieren und gemeinsam einen Gegenpol zur Marktmacht großer Lieferanten zu bilden. Lokal verankert und überregional vernetzt, wurden Kunden verstanden und auf ihrem Lebensweg begleitet. Seit dem Jahr 2017 genießt die genossenschaftliche Idee den von der UNESCO verliehenen Status eines Weltkulturerbes und kann somit ein einmaliges Differenzierungsmerkmal vorweisen.
Die Banken der Genossenschaftlichen FinanzGruppe bilden eine von drei Säulen des deutschen Bankenwesens. Da mit dem genossenschaftlichen Grundgedanken ihr zentrales Differenzierungsmerkmal zunehmend wieder dem Zeitgeist entspricht, stellen sie, gerade in für die Finanzwirtschaft wirtschaftlich schwierigen Zeiten, einen interessanten Betrachtungsgegenstand dar. Notwendige Bedingung eines Angebots an ihre hochgradig heterogene, weil die Gesamtbevölkerung repräsentierende Zielgruppe, ist allerdings auch eine Reaktion auf zunehmende Mobilität, Urbanisierung und damit einhergehend neue Formen der Nähe zum Kunden. Andernfalls droht, wie bereits zu beobachten, eine Überalterung der eigenen Kundenstruktur und somit das perspektivische Schwinden derselben. Um dem entgegenzuwirken, ist ein Dreiklang aus Übersetzung der wettbewerbsdifferenzierenden Werte in Geschäftsmodell/Produkte, der hierzu erforderlichen technologischen Befähigung sowie, als Conditio sine qua non, dem Etablieren einer handlungsfähigen Governance notwendig. Neben dem hierzu nötigen Willensbildungsprozess bedarf es dabei einer nicht zu unterschätzenden Umsetzungskompetenz (siehe White Paper „Wollen >> Können“).
Das deutsche Bankensystem beruht auf drei Säulen, die sich in ihrer Struktur und ihrem Geschäftszwecks unterscheiden. Neben Kreditinstituten privatrechtlicher Geschäftsform (die bekannten Institute wie Deutsche Bank und Commerzbank) und öffentlich-rechtlich geführten Instituten (u.a. Sparkassen und Landesbanken) existiert mit den genossenschaftlich organisierten Instituten der Genossenschaftlichen FinanzGruppe (GFG) eine dritte Säule, deren Eigentümerstruktur und Geschäftszweck sich von jenen der ersten beiden Säulen unterscheiden.
Anders, als die Banken der ersten beiden Säulen, befinden sich die Institute der GFG vollständig in Hand ihrer über 18 Mio. Mitglieder. Somit ist die Mehrheit ihrer 30 Mio. Kunden gleichzeitig auch Eigentümer, und die GFG per Geschäftszweck ihrer Förderung verpflichtet.
In den letzten 10 Jahren divergieren die Geschäftsentwicklungen der drei Säulen zunehmend, was zumindest teilweise anhand der jeweiligen, am Geschäftszweck orientierten, Erlösmodelle erklärt werden kann. So erzielen einstige Vorzeigekandidaten unter den privatrechtlichen Instituten wie Deutsche Bank und Commerzbank zusehends schwächere Jahresabschlüsse, während öffentlich-rechtliche Institute wie die Sparkassen auf gutem Niveau stabil sind und die Genossenschaftliche FinanzGruppe als Gesamtheit sogar mit wachsend positiven Ergebnissen glänzen kann. Dass ersteren (trotz Private Equity-Aktivitäten) die als Orientierung dienenden Gewinne mehr und mehr abhandenkommen, während letzteren Gewinne fast schon als Begleiterscheinung ihrer Orientierung an der Förderung ihrer Mitglieder beschert sind, ist bemerkenswert.
Wenig verwunderlich hingegen ist, dass sowohl der genossenschaftliche Gedanke von „Hilfe zur Selbsthilfe“, als auch die genossenschaftlichen Werte Partnerschaftlichkeit, Transparenz, Solidarität, Bodenständigkeit & Mitgliederverpflichtung auf zunehmende Resonanz in der Gesellschaft treffen, entsprechen sie doch der gesellschaftlichen Werteentwicklung und gehen mit modernen Paradigmen eines selbstbestimmten, bewussten Lebensstils einher. So haben in der Gesellschaft zum Beispiel die Werte Familie, Sicherheit, Gemeinschaft und Nachhaltigkeit zuletzt verstärkt an Bedeutung gewonnen oder sind auf hohem Niveau stabil.
Aber nicht nur die GFG profitiert vom Erstarken genossenschaftlicher Werte, auch neue Marktteilnehmer erkennen das Potential der gesellschaftlichen Wertorientierung. So spendet zum Beispiel das InsurTechs „Lemonade“ einen Teil seiner Gewinne wohltätigen Zwecken und steht mithin für den Gedanken, eigenen Profit zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen, „etwas zurückzugeben“. Das FinTech „Fidor“, als weiteres Beispiel, will zwischenmenschliche Verbindungen unter seinen Kunden im Wege einer Onlinecommunity fördern. N26 ermöglicht gemeinsames Sparen mit Freunden und setzt dabei auf maximale Einfachheit und Transparenz. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Diese Renaissance ehrwürdiger Werte und der mit ihnen verbundene Geschäftserfolg in einem volatilen Umfeld, machen die Genossenschaftliche FinanzGruppe zu einem interessanten Betrachtungsgegenstand. Denn wieder befindet sich die Gesellschaft – dieses Mal mit der Technologisierung – an einem Wendepunkt, der die Umverteilung von Wohlstand bedingt.
Doch es ist nicht alles Gold was glänzt. Dem aufmerksamen Betrachter zeigt sich, dass die vermeintlich glückliche Position der Institute der GFG auf tönernen Füßen steht, ist doch die noch bestehende positive Ertragslage maßgeblich auf eine überproportionale Ausweitung der gewährten Kreditvolumina – und somit eine eher traditionelle Einkommensquelle – zurückzuführen. Der sinkenden Differenz zwischen Kredit- und Einlagezinsen (der sog. Zinsmarge) wurde also begegnet, in dem mehr Kredite vergeben wurden. Empfänger dieser ausgeweiteten Kreditmenge sind nicht nur Privat- sondern auch die verstärkt im Fokus stehenden Firmenkunden. Bedingt durch historisch niedrige Zinsen und damit einhergehend einer geringen Anzahl von Insolvenzen stellen sich letztere als attraktive Kundengruppe mit niedrigem Ausfallrisiko dar.
Das Potenzial dieser Strategie ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Sättigung des Marktes mit billigem Geld jedoch limitiert, Fristentransformation als Geschäftsgrundlage gerät an ihre Grenzen.
Strukturelle und somit zukunftswirksame Defizite werden außerdem offenbar, wendet man den Blick gen Altersverteilung des Kundenstammes. Hier fällt auf, dass nicht nur die Kunden im Alter ab 50 Jahren über-, sondern auch die zukunftsträchtige Kundengruppe der unter 50-jährigen unterrepräsentiert sind. Besonderen Anlass zur Sorge sollte in diesem Zusammenhang die Tatsache bereiten, dass die Bereitschaft zum Wechsel der Hausbank mit zunehmendem Alter abnimmt. Verstärkt wird dieser Eindruck, zieht man in Betracht, dass die Wahl der Hausbank oftmals im Sinne einer „Vererbung“ maßgeblich von der Wahl der eigenen Eltern beeinflusst ist. Genossenschaftliches Banking erhebt jedoch traditionell den Anspruch, ein Breitenangebot abzubilden. Alter, Einkommen und Wohnort sind Kategorien, in denen sich das Allfinanzangebot der Institute der Genossenschaftlichen FinanzGruppe an eine äußerst heterogene Zielgruppe wendet. Langfristig wird sich also die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der GFG auch daran beantworten lassen, ob es ihr gelingt, die heute renditeschwachen, später aber nicht mehr hinreichend wechselwilligen jungen Kunden in der Altersklasse unter 50 wieder für sich zu gewinnen.
Die Antwort hierauf wird keinesfalls in der Imitation des Angebots von bei jungen Kunden erfolgreichen Anbietern wie N26 zu finden sein, da diese sich überwiegend mit einem hoch spezialisierten Angebot auf eine schmale, homogene Zielgruppe fokussieren. Vor dem Hintergrund einer heterogenen Zielgruppe und dem Wiedererstarken genossenschaftlicher Werte bedarf es vielmehr eines Herausstellens eben dieser Werte und ihres Einsatzes als differenzierenden Faktor. Zu diesem Zweck bietet es sich an, die genossenschaftlichen Werte auch in einem differenzierten, über die üblichen Finanzprodukte hinausgehenden, Produktportfolio stärker abzubilden. Neben dem Gleichziehen mit Mitbewerbern, etwa durch die Integration von Apple Pay, wäre es lohnenswert zu eruieren, wie sich Angebote mit betont genossenschaftlichem Charakter formulieren lassen. Sicher ist, dass ein solches Produktangebot hoch individualisierbar sein müsste, im Idealfall modular strukturiert.
Zusätzlich werden aber nicht nur wertebezogene, sondern auch lebensweltliche Veränderungen zu reflektieren sein. Hierzu zählt einerseits die zunehmende Urbanisierung der Gesellschaft, andererseits das resultierende Erfordernis, auch in Gegenden mit abnehmender Besiedelungsdichte weiterhin ein attraktives Angebot zu formulieren. Nur findet Nähe zum Kunden eben nicht mehr ausschließlich über Präsenz vor Ort im Sinne einer Filiale, sondern in vielen Fällen über eine hervorragende Omnikanal-Erreichbarkeit statt. 67% der Deutschen geben an, dass das digitale Angebot ihrer Bank ein entscheidendes Auswahlkriterium darstellt, 13% wollen in den nächsten 12 Monaten zu einer reinen Digitalbank wechseln und 29% könnten sich sogar vorstellen, ein Konto direkt bei einem Digitalunternehmen zu eröffnen. Letztlich ist digitale Erreichbarkeit nicht als Antagonist der Filialen vor Ort, sondern als ihre natürliche Evolution und Erweiterung zu verstehen. Physisch präsent zu sein war immer Mittel zum Zweck – der Realisation einer möglichst komfortablen Kundenschnittstelle. Die Mittel zur Erfüllung dieses Zwecks haben sich mit 24/7 ortsunabhängiger Erreichbarkeit lediglich erweitert. Wo das Regionalprinzip nicht nur dem Gebietsschutz diente, sondern die Verpflichtung implizierte, der jeweiligen Region auch eine Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, bieten sich heute, im Wege gemeinsamer Verantwortung für einen gesamtdeutschen Markt, technologisch befähigt gänzlich neue Versorgungsszenarien und -ansprüche. Durch die Anwendung moderner Technologien lässt sich der Kundennutzen erhöhen und das genossenschaftliche Alleinstellungsmerkmal als Quell eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils ausbauen. Soll außerdem das bisherige, starke Fillialangebot in Zukunft parallel aufrechterhalten werden, so muss sich aus diesem auch ein durch den Kunden wahrgenommenes und, im Sinne einer entsprechenden Zahlungsbereitschaft, geschätztes Mehrwertangebot ergeben.
Gleichzeitig liegt hierin auch die Antwort auf eine von zunehmender Mobilität geprägte Gesellschaft. Wenn für Studium oder Ausbildung, Einstieg in die Berufstätigkeit und, unter Umständen, für die spätere Familiengründung jeweils der Wohnort gewechselt wird, sollte dies keinen Grund bilden, jeweils auch die Bank wechseln zu müssen. Denn ein Grund, warum das Allfinanzangebot nicht in gleichbleibendem Umfang und Qualität nutzbar sein sollte, ist objektiv nicht zu erkennen. Freilich setzt dieses Ansinnen einen Paradigmenwechsel weg von maximaler Autonomie und territorialer Zuständigkeit hin zu maximaler Integration zum Wohl des Kunden voraus.
Zu beantworten sein wird aber nicht nur die Frage nach dem Wollen, sondern auch nach dem Können. Es bedarf eines nicht nur gemeinschaftlichen, sondern auch technisch zukunftsfähigen Agierens. Technisch zukunftsfähig nicht nur im Sinne der Wiedererlangung regulatorischer Konformität der eigenen IT. Technisch zukunftsfähig nicht nur im Sinne eines gemeinsamen Front-Ends zu geschätzten Kosten von 500 Mio. €, einem Betrag, zu dem Andere eine ganze Retail Bank aufbauen (N26 ist derzeit mit rund 616 Mio. € finanziert). Technisch zukunftsfähig vielmehr im Sinne von technischer Integration untereinander, bei gleichzeitiger Öffnung für Dritte. Die Bereitstellung sämtlicher Facetten des genossenschaftlichen Allfinanzangebots aus eigener Hand ist für die GFG nur eine Möglichkeit von vielen, ihren inhärenten Auftrag der Förderung ihrer Mitglieder zu erfüllen. Diesem wäre ebenso entsprochen, würden einzelne Angebotsbestandteile über Plattformstrukturen von externen Dritten bezogen. Gleichzeitig wäre das eigene Angebot so einem Drittmarktvergleich zugänglich gemacht, da bei technischer Möglichkeit des Drittbezugs jedes eigene Angebot mindestens auf Augenhöhe mit Marktstandards rangieren müsste, um nicht rationaler Weise durch externe Angebote ersetzt zu werden. Die zusätzliche Integration weiterführender Angebote und Kooperationen, etwa mit Wohnungsbaugenossenschaften, Agrargenossenschaften und ihren Supermärkten (z.B. LPG) oder Betreibern kollektivierten Eigentums der Sharing Economy wäre anschließend nur ein weiterer logischer Schritt.
Wo steht geschrieben, dass eine Bank immer nur Bank, eine Versicherung immer nur Versicherung sein darf? An der gleichen Stelle an der steht, dass Technologiekonzerne keine Bankfunktionen übernehmen werden? In Zeiten, in denen Technologiekonzerne sich nicht mehr als Anbieter von Software und Hardware, sondern als Enabler eines durchgängig integrierten Kundenerlebnisses mit angeschlossener Auswertung der anfallenden Daten verstehen, scheint es genauso geboten, dass Finanzdienstleister das eigene Selbstverständnis in Richtung eines Plattformgedankens öffnen. Bei der Hebung hier liegender Synergie- und Geschäftspotenziale hilft eine enge Verzahnung der Gestaltungsprozesse von Geschäfts-, IT- und Datenschutz-Strategie, anstelle einer bloßen Ableitung letzterer beiden aus der ersten. Ein entsprechendes Umdenken müsste natürlich nicht nur in den eigenen Köpfen, sondern auch aufseiten derzeit fest eingeflochtener IT-Dienstleister verfangen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Zweckmäßigkeit einer strukturellen Bevorteilung eigener Ökosysteme vor denen des offenen Marktes kritisch zu hinterfragen.
Ein weiterer Fokus der technologisch zukunftsfähigen Aufstellung muss auf der Erhöhung von Reaktionsgeschwindigkeit liegen. Hier öffnen sich strukturelle Differenzen zwischen etablierten Instituten (deren Legacy-Technologie nicht nur historisches Relikt, sondern auch Ausweis einer ursprünglichen Pionierrolle ist) und neuen Marktteilnehmern. Diese Differenzen nicht nur zu schließen, sondern die eigene Position wieder aktiv zu gestalten, wird mit zunehmend verstreichender Zeit auch kostenintensiver werden – bis es ökonomisch und organisatorisch kaum mehr umsetzbar erscheint. Um dem entgegenzuwirken ist es essenziell, in der technologischen Aufstellung moderne Architekturparadigmen zu berücksichtigen. Hierzu zählen eine auf Microservices basierte Cloud-first Strategie und die Kompatibilität mit weltweiten Standards (Schnittstellen, Protokolle, etc.), genauso wie der Einsatz von BizDevOps (interdisziplinär zusammengesetzte Teams aus Business, Development und Operations) als Entwicklungsansatz in Verbindung mit dramatisch verkürzten Releasezyklen durch Continuous Integration und Continuous Deployment (CI/CD).
Es bedarf also, in anderen Worten, eines Aufbruchs zurück in die Zukunft. Hin zu technologischer Anschlussfähigkeit, untereinander und zu Drittanbietern, entsprechend dem in der genossenschaftlichen DNA verankerten Pioniergeist. Derselbe Pioniergeist, welcher ursprünglich den Genossenschaften und ihrer Idee von Hilfe zur Selbsthilfe einen beeindruckenden Widerhall in der Welt bescherte.
Um nun die Schärfung des genossenschaftlichen Produktangebots und die dazu erforderliche technologische Erneuerung zu befähigen, bedarf es einer handlungsfähigen Governance. In einem ersten Schritt wäre sicherzustellen, dass die Entscheidungs- und Kontrollgremien primär unabhängig, kompetent und, wo möglich, extern besetzt ist. In einem zweiten Schritt wären bestehende Incentivierungsmechanismen unter Vorständen in Richtung der Bonifizierung angemessen schneller Reaktionen auf das Marktgeschehen zu optimieren. Als beeindruckendes Beispiel für die Vorteile eines solchen, schnellen Handelns lässt sich hier die Einführung von Apple Pay anführen. Frühe Adaptoren des Bezahldienstes aus Cupertino konnten teils signifikante Transaktions- und Kundenzuwächse verzeichnen, während die Institute der Genossenschaftlichen FinanzGruppe die Integration des Smartphones als Zahlungsmittel bis heute nicht unterstützen.
Im Hinblick auf Geschwindigkeit von Entscheidungen könnte letztlich der Blick auch auf die schiere Anzahl an in Entscheidungen involvierte Personen gerichtet werden. Sofern politisch gewollt würde hier offenbar, dass sich durch die Abbildung eines eigenen Vorstands und Aufsichtsrats auf Ebene jeder Volks- und Raiffeisenbank je Institut ein ähnlich großer Leitungskreis findet, wie er sonst bei Unternehmen mit signifikant größeren Bilanzsummen und Erträgen anzutreffen ist. Bei 887 zur GFG gehörenden Instituten mit jeweils eigener Vorstands- und Aufsichtsratsstruktur ist selbst konservativ geschätzt von insgesamt mindestens 3.000 Mitgliedern auszugehen. Das ist in etwa das 100-fache von Unternehmen mit vergleichbar hoher oder deutlich höherer Bilanzsumme (VR-Banken: 935 Mrd. €, Deutsche Bank: 1.348 Mrd. €).
Eine Betrachtung der Handlungsgeschwindigkeit bedarf naturgemäß nicht nur einer Analyse der Entscheidungs- sondern auch der Umsetzungsgeschwindigkeit. Kritisches Augenmerk müsste in diesem Sinne auch auf der genauen Ursache des Erzielens von Ergebnissen gelten. Eine Analyse der Dauer von Entscheidungs- wie Umsetzungsprozessen wäre hier aufschlussreich. Von mindestens ebenso hohem Erkenntnisinteresse wäre darüber hinaus die Motivation der zu beobachtenden Strukturen und Prozesse. Beruht Handeln auf dem Faktischem, auf Überzeugung oder auf Machtaggregation bzw. Bedeutungshoheit in internen Strukturen?
Natürlich finden sich im europäischen Vergleich erfolgreiche Marktteilnehmer mit einer GFG ähnlichen Governancestruktur. Auch sind die Vorteile besonnenen Handelns, etwa vor dem Hintergrund der Finanzkrise, unbestritten. Entscheiden wird sich die Frage nach der Zukunftsträchtigkeit einer dezentralen Governance an der Frage, ob sie sich ähnlich dezentral organisierten Arbeitsweisen einer zunehmend agil geprägten Umwelt als kompatibel oder denselben sogar als zuträglich erweist.
Fazit
Bedingt durch das Paradigma maximaler Autonomie und dem daraus hervorgehenden Subsidiaritätsprinzip findet institutsübergreifendes, technologisch-integriertes Agieren zwischen den Instituten der Genossenschaftlichen FinanzGruppe aktuell nur bedingt statt. Das genossenschaftliche Finanzangebot in Deutschland stellt sich hierdurch als die Summe seiner Teile dar, für den einzelnen Kunden jedoch jeweils nur als `(lokaler) Ausschnitt erlebbar. Angesichts sinkender Tragfähigkeit des Geschäftsmodells „Fristentransformation“ und eines adversen Missverhältnisses in der Altersstruktur ihrer Kunden ist die Genossenschaftliche FinanzGruppe gefordert, ihr Ganzes zu mehr als der Summe ihrer Teile erstarken zu lassen. Um ihre hohe Kompetenz im Bereich des filialbasierten Bankings in der Kundengruppe der über 50-Jährigen auch in der digitalen Sphäre und bei jüngeren Kunden zum Tragen kommen zu lassen, bedarf es der technologischen Operationalisierung ihrer genossenschaftlichen Werte. Hierzu zählt auch die Förderung ihrer Mitglieder, was die Bereitstellung des bestmöglichen Allfinanzangebots umfasst – wenn nötig und wo sinnvoll unter Einbezug von Drittanbietern. Denn neben der Frage nach der Leistungsfähigkeit eigener IT stellt sich immer auch die Frage nach der Kosteneffizienz derselben. Die Chancen so zu reüssieren stehen gut, denn die noch gute Ertragslage bietet den nötigen Handlungs- und Investitionsspielraum, während der Markenkern in der Renaissance als überaus tragfähig erscheint.
Quellen
1. Kantar: Werte-Index 2018 - Natur und Familie sind den Deutschen jetzt wichtiger
https://www.kantartns.de/presse/presseinformation.asp?prID=3609
2. Bitkom: Beim Online-Banking sind nur noch Senioren zurückhaltend
https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Beim-Online-Banking-sind-nur-noch-Senioren-zurueckhaltend