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Technologiemanagement als Kernelement moderner Unternehmensführung

1. Digitalisierung, Regulatorik, steigende Kundenansprüche, neue Wettbewerber…IT verändert die Welt (schon lange)!

Finanzprodukte weitgehend digital. Die physische Erfahrung bezog sich bisher auf Produkt- und Informationsmaterialien, Verträge und Anträge – dies wird praktisch vollkommen eliminiert. Es verbleiben persönliche Interaktionen mit Kundenberatern. Physische Präsenz war nur Mittel zum Zweck – Bereitstellung der Kundenschnittstelle. Die Möglichkeiten hierfür haben sich mit 24/7 ortsunabhängiger Verfügbarkeit von Services auf Basis von IT erweitert. Durch moderne IT lassen sich Kundennutzen erhöhen und Wettbewerbsvorteile ausbauen. Dies im Kontext von Regulatorik, Niedrigzinsumfeld, neuen Wettbewerbern erfolgreich zu realisieren, erfordert Verständnis von Potenzialen und Machbarkeiten, von Wollen und Können eines souveränen Umgangs mit Technologie.

Aus dem Verständnis der individuellen Ausgangsposition gepaart mit dem Wissen um die dynamische Entwicklung von Technologie (Moore’s Law ist weiter aktuell) gilt es, eine explizit gemachte Position zu beziehen: Ist man Technologieunternehmen mit Fokus auf Finanzprodukte oder ist man Bank respektive Versicherung mit gezieltem Einsatz von IT? Beide Optionen sind valide, nur müssen sich Institutionen entscheiden, denn ein „sowohl als auch“ verhindert die Bündelung von Kräften. In jedem Fall ist eine Fokussierung auf die Kernkompetenz und eine gesamtheitliche Vision notwendig.

Banken oder Versicherungen können Tech-Unternehmen werden und umgekehrt – die Entscheidung zu treffen, ist zwingend erforderlich und konsequent zu operationalisieren. Unabhängig davon ist es, Technologiemanagement in der Governance zu etablieren, da andernfalls dieses existenzielle Thema von anderen Belangen überlagert wird. Grundlage für eine Umsetzung ist IT-Kompetenz, da Potenziale digitaler Geschäftsmodelle sonst unzureichend berücksichtigt werden. Die aktuelle Umfrage zeigt, dass für deutlich über 50% der Banken und sogar über 60% der Versicherungen der Mangel an Expertise sowie die Geschwindigkeit der Innovations- und Technologiezyklen relevante Herausforderungen darstellen.

Wenig hiervon ist in der Praxis neu, wir diskutieren dies bereits seit Jahren. Es gibt kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.

2. Warum müssen wir IT-Management neu denken – es hat doch bisher auch funktioniert (irgendwie)?

Vor jeder wirklichen Lösung steht ein Verstehen des Problems. Lösungen müssen Ursachen adressieren und dürfen sich nicht auf Symptome richten. In unserer Arbeit erkennen wir drei Aspekte im Umgang mit IT, die in der Regel nicht adäquat berücksichtigt werden:

  • IT-Systeme altern vergleichbar mit dem menschlichen Alterungsprozess: Systeme werden mit fortschreitendem Lebensalter schwerfälliger und verlieren die Fähigkeit, sich schnell genug an geänderte Marktbedingungen anzupassen. Ihre Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit nimmt bei gleichzeitigem Anstieg der Kosten für Wartung und Betrieb ab. Schon in den 1990er Jahren wurde dies im Essay „Software Aging“ von David L. Parnas beschrieben, wonach sowohl Systementwürfe als auch Prozesse, Methoden und Tools den Rahmenbedingungen ihrer Technologieära unterliegen. Dies bedeutet, dass zum Zeitpunkt der Inbetriebsetzung die IT-Systeme ihrer ursprünglichen Konzeption entsprechen, also eine hohe konzeptionelle Integrität aufweisen und damit frei von strukturellen technischen Schulden sind. Der einsetzende Änderungsprozess nimmt meist einen natürlichen, mehr oder weniger starken entropischen Verlauf. Das System weicht mit zunehmender Anzahl an Änderungen und implementierten Funktionen fortwährend mehr vom ursprünglichen Konzept ab. Mit zunehmendem Alter des Systems beschleunigt sich die konzeptionelle Erosion und führt zu einer schlechteren Anpassbarkeit und Systemqualität.

IT-Systeme altern, wenn „Fitness“ nicht aktiv betrieben wird

Abbildung 1: IT-Systeme altern, wenn „Fitness“ nicht aktiv betrieben wird

  • Technologieschulden sind nicht transparent und werden nicht als relevante Parameter in Entscheidungen einbezogen. Ein bedeutsamer Punkt ist, dass mit der abnehmenden konzeptionellen Integrität ein Wertverlust des IT-Systems einhergeht, der ungesteuert ist (abgesehen von der Erfassung der AfA in der Finanzbuchhaltung) und wie eine unsichtbare und wachsende Hypothek auf dem System lastet. Selten werden technische Schulden systematisch erfasst. Das Problem ist also nicht oder in seiner Größe nicht vollständig bekannt. Wesentliche Ursache hierfür ist ein oft ausschließlich auf funktionale Weiterentwicklungen ausgerichtetes Änderungsmanagement. Anpassungen am IT-System sollen mit minimalem Kosten- und Zeitaufwand erfolgen. Die konzeptionelle Integrität des Systems („Schuldenreduktion“) stellt für den Nutzer keinen direkten Wert dar, ist deshalb kein Ziel und wird nicht gesteuert. Im Ergebnis entstehen historisch gewachsene, komplexe Systeme mit signifikanten Interdependenzen und „unsichtbaren“ technischen Schulden.
  • Organisationen ändern sich deutlich langsamer, als die Technologieentwicklung neue Möglichkeiten hervorbringt. Schon die Gesetze von Conway von 1968 besagen, dass Strukturen von Systemen durch die umzusetzende Organisation vorbestimmt sind. Folglich sind eingesetzte Technologien, ausgeprägt in Anwendungen und Systemen, von Organisationsstrukturen abhängig. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass eine Organisation – beziehungsweise die darin in unterschiedlichsten Prozessen miteinander interagierenden Menschen – nur relativ langsam Veränderungen adaptiert, während sich die Technologieentwicklung exponentiell beschleunigt. Darüber hinaus besteht bei der Notwendigkeit eines Austausches der Technologiebasis das Problem von fehlenden Fähigkeiten in Bezug auf neue Technologien, Vorgehens- und Zusammenarbeitsmodellen, flexiblere Governance etc. Infolge dieses Defizits an Fähigkeiten entsteht Angst vor Bedeutungsverlust bis zur Sorge um den eigenen Arbeitsplatz, und damit wiederum wirken organisatorische Beharrungskräfte der IT-Erneuerung regelmäßig entgegen.

Einflussfaktoren auf organisatorische Impedanz

Abbildung 2: Einflussfaktoren auf organisatorische Impedanz

Da in der Finanzindustrie Technologieeinsatz als unternehmenskritisch und marktdifferenzierend einzustufen ist, sollten sich Organisationen resilient aufstellen und auf Geschwindigkeit und Potenzial ausrichten.

3. Zukunftsgestaltung bedeutet, Technologiemanagement als Kernelement in der Unternehmenssteuerung zu verankern!

Technologiemanagement als strategisches Element einer modernen Unternehmenssteuerung umfasst unter anderem folgende drei Bausteine:

  1. Technische Schulden sichtbar machen, dadurch den Alterungsprozess von IT-Systemen messen, um entgegenwirkende Maßnahmen gezielt ableiten zu können. Die technische Schuld umfasst die Summe technischer Defizite, die im Zeitverlauf an einem IT-System auftreten. Das sind nicht fachliche Fehler, sondern Aspekte unzureichender Qualität, die sich klassifizieren lassen: a) Design- oder Architekturschwächen, b) Einsatz abgekündigter Technologien, c) Mängel im Coding, d) geringe Testabdeckungen bzw. -automatisierung, e) unzureichende Dokumentation. Die technische Schuld drückt den Aufwand für die Maßnahmen aus, die notwendig sind, um das IT-System auf das nötige Qualitätslevel zu heben, ausgerichtet an Geschäftszweck, Marktdifferenzierung und Potenzial.
  2. Ausrichtung auf kontinuierlich evolutionäre Modernisierung anstatt Durchführung von Großprojekten alle 5, 10 oder 20 Jahre. Sind technische Schulden transparent, werden Maßnahmen formuliert und entschieden. Der evolutionäre Ansatz im Technologiemanagement verfolgt das Ziel, technische Schulden innerhalb eines Korridors zuzulassen. Diese sind keine „falschen“ Entscheidungen, die korrigiert werden müssen, sondern bewusster Handlungsspielraum. Die technische Schuld lässt sich gut mit einem Kredit vergleichen. Es ist durchaus sinnvoll, Schulden gezielt zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit aufzunehmen. Sie müssen jedoch erfasst und ihre Auswirkungen begrenzt werden, um langfristig die Zukunftsfähigkeit der IT-Systeme sicherzustellen. Sonst ist irgendwann Payback-Time (= „ein Großprojekt zur Modernisierung“).
  3. Differenzierung zwischen „Design for Change“ und „Wegwerfarchitektur“ anstatt „One-size-fits-all“-Richtlinien für IT-Realisierungen. Um dem Verlust der Anpassungsfähigkeit infolge immer kürzerer Technologiezyklen zu begegnen, sollten zwei gegensätzliche Prinzipien gezielt für die IT-Gestaltung angewendet werden
    • Wegwerfarchitekturen: Schon beim Entwurf des IT-Systems wird ein konkretes Verfallsdatum festgelegt und die Neuimplementierung als technische Schuld im Budget eingepreist. Dies bietet sich für IT-Systeme und Komponenten an, die sehr starken Änderungszyklen unterliegen.
    • Design-to-Change: Die Architektur wird auf maximale Änderbarkeit ausgelegt. Dabei kann das Prinzip einer hexagonalen Architektur mit einer an der fachlichen Funktion orientierten Modularisierung mittels Domain Driven Design kombiniert werden. Durch die Modularisierung und technische Entkoppelung sind diese Ansätze aufwendiger bei der initialen Implementierung, aber umso robuster bei Änderungen.

Der Ansatz setzt wohldefinierte Domänengrenzen in der Gesamtarchitektur und standardisierte Schnittstellen für die Integration voraus. Das notwendige Fach- und IT-Wissen zum Verständnis einer Domäne wird begrenzt. Neben anderen hier nicht vertieften positiven Effekten wird somit die Entscheidung zur Differenzierung im Systementwurf bezüglich der erwarteten Lebensdauer des Systems und dem entsprechenden Umgang mit den technischen Schulden ermöglicht.

4. Zusammenfassung

Technologiemanagement und die dafür notwendigen Prozesse und Werkzeuge sind grundsätzlich nicht neu, sie werden allerdings in IT-Organisationen oftmals nicht konsequent bzw. mit erforderlicher Lenkungswirkung eingesetzt.

Innovationszyklen werden kürzer und IT ist wettbewerbsdifferenzierender Faktor. Der sich aus der Dualität von wachsenden technischen Schulden einerseits und der Steigerung der Relevanz von IT andererseits ergebende Handlungsdruck sollte institutionell verankert werden. Hierzu empfehlen wir, sowohl im Management als auch in Aufsichtsgremien das Thema nicht nur in den Fokus zu nehmen, sondern durch Regelprozesse, Incentivierung und Kompetenzen abzusichern. Aufgrund der beschriebenen Alterungsprozesse von IT-Systemen und der damit einhergehenden Kumulierung technischer Schulden ist unmittelbares Handeln erforderlich, um größere Freiheitsgrade im IT-Design und somit die erforderliche Agilität in der Entwicklung technologiebasierter Geschäftsmodelle zu erreichen.

Transparenz über technische Schulden durch regelmäßige Messung und den Einbezug in die Managemententscheidungen ermöglichen einen wirksamen Ansatz für eine evolutionäre Weiterentwicklung von IT-Systemen und gleichzeitiger Beibehaltung von Fitness und Agilität. Dies setzt technologischen Gestaltungswillen voraus, sowie die Fähigkeit, nicht nur zu wollen, sondern auch zu können.

Quellen

[1] CORE SE
[2] COREresearch

Unsere Autoren

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Expert - Karsten Trostmann

Karsten Trostmann
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Karsten Trostmann ist Expert Director bei CORE. Als Informatiker deckt Karsten bei uns die Schwerpunktthemen IT-Strategie, Evolutionäre IT-Architektur, Domain Driven Design, agile Softwareentwickl...

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Karsten Trostmann ist Expert Director bei CORE. Als Informatiker deckt Karsten bei uns die Schwerpunktthemen IT-Strategie, Evolutionäre IT-Architektur, Domain Driven Design, agile Softwareentwicklung und Cloud Infrastrukturen ab. Karstens bisherige Projekterfahrungen bei CORE umfassen unter anderem die Evaluierung der Plattformstrategie für einen Digitalversicherer, die Entwicklung der Cloud Operations für einen Identityprovider sowie Architekturreviews in verschiedenen Projekten.

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Dr. Philipp Kleine Jäger ist Managing Partner bei CORE und für den Ausbau der Engineering Services verantwortlich. Er hat langjährige Erfahrung in Softwareentwicklung und Technologie Management im Finanzsektor. Insbesondere cloud-native, skalier-fähige Distributed Microservice-Architekturen sowie innovative Sourcingmodelle bilden den Schwerpunkt seiner Tätigkeit.

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Mauritz von Lenthe ist Senior Transformation Manager bei CORE mit dem Fokus auf Informationssicherheit & Compliance, insbesondere im Bereich Datenmanagement & KI. Seine vielseitige Ausbildung von Betriebswirtschaft über Wirtschaftsingenieurwesen bis hin zum Data Scientist gibt ihm eine einzigartige Perspektive auf technologiegetriebene Prozesse. Als erfahrener Projektmanager und KI-Spezialist entwickelt er innovative Lösungen, die Sicherheit, Compliance und fortschrittliche Datennutzung miteinander verbinden.

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