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Wachsender Reifegrad der Innovationen auf dem Markt für Finanzdienstleistungen – Teil I

KEY FACTS

  • Finovate in London und in San Francisco mit unterschiedlichen Schwerpunkten

  • Unterschiedliche Indikationen des Reifegrads

  • Diffusions- gegenüber Integrations-Paradigma

  • Entwicklungen hin zu B2B und speziellen Marktsegmenten

REPORT

Auf der Finovate Mitte Mai dieses Jahres in San Francisco präsentierten bekannte wie neue Unternehmen ihre Produkte und Services im Bereich Finanzdienstleistungen. Im Vergleich mit der vorangegangenen Londoner Finovate im Februar ließ sich ein veränderter Schwerpunkt der vorgestellten Konzepte bemerken. Reiner Zufall? Unterschiedliche Trends des nordamerikanischen gegenüber dem europäischen Markt? Oder doch Zeichen einer übergreifenden Tendenz? Diese Fragen geben Anlass, der These eines wachsenden Reifegrads der innovativen Entwicklungen auf dem Markt für Finanzdienstleistungen in einer kleinen Reihe von Untersuchungen nachzugehen. Der folgende erste Teil beschäftigt sich mit dem methodisch-theoretischen Grundgerüst des Konzepts des Reifegrads. Daran anschließend wird zu thematisieren sein, ob und inwiefern sich angesichts der Innovationen tatsächlich von einem wachsenden Reifegrad der Entwicklungen sprechen lässt.

Ein prominenter Indikator für den Reifegrad innovater Entwicklungen ist die Marktdurchdringung oder Diffusion einzelner Produkte. Aufgrund des Produktbezugs werden daran anknüpfende Aussagen jedoch desto unschärfer, je weniger sie auf das einzelne Produkt und je mehr sie auf die Veränderungen des Marktes ingesamt abheben. Diesem Manko lässt sich methodisch nur durch eine Vielzahl untersuchter Produkte entgegenwirken. Da sich langfristig in der Regel jedoch nur wenige der innovativen Produkte durchsetzen, bleibt diese Bestimmung des Reifegrads primär produktbezogen. Die entsprechenden Aussagen zu Marktveränderungen lassen sich nur unter der Bedingung treffen, dass eines der Produkte disruptiv den Gesamtmarkt verändert.

Das bekannte Beispiel Apples illustriert das: Jeder wusste, dass tastenlose, mit berührungssensitiven Displays ausgestattete „Telefone“ am Markt verfangen – nachdem Apple die Marktführerschaft im Segment der Smartphones übernommen hatte. Quasi nebenbei wurde durch das App-Konzept ein Geschäftsmodell eingeführt, das mit der programmatischen Öffnung der Software-Architektur einzelnen Services und Funktionen den Zugang zum Massenmarkt ebnete, wodurch geringe Preise für den Konsumenten durch hohe Skalierungen für die Produzenten zugleich ermöglicht wurden.

Auch der Markt für innovative Finanzdienstleistungen lässt sich anhand dieses Indikators beurteilen. Entsprechend werden einzelne Produkte und Services benannt, deren exponentielles Wachstum herausgestellt wird:

  • im Bereich mobilen Zahlens etwa das bekannte Square, dessen Funktionen mittlerweile auch große Unternehmen mit eigenen Produkten realisieren (PayPal Here, NCR Silver) und das weitere Startups mit Klonen für andere Regionen und Märkte erschließen wollen (SumUp, payleven)

  • Kickstarter im Segment Lending Operations, dessen Crowd Funding-Plattform bereits viele Nachahmer gefunden hat (Startnext, Seedmatch, Innovestment, Funding Circle, Crowdcube, Bergfürst)

  • Mint im Bereich Personal Finance Management, das auf mehreren Märkten Nordamerikas verfügbar ist und zwischenzeitlich von einem etablierten Spieler (Intuit) gekauft worden ist

In diesem Überblick über die Marktdurchdringung einzelner Produkte finden sich die weiteren Kriterien des Produkt-Paradigmas versammelt: inwiefern bestimmte Angebote und Funktionen geklont, inwiefern sie auf weitere Märkte übertragen und inwiefern sie von etablierten Spielern gekauft werden. Da all diese Kriterien durch einzelne Produkte und Services erfüllt sind, lässt sich von einem zunehmenden Reifegrad der innovativen Entwicklungen sprechen.

Es gibt über diese Punkte hinaus jedoch bestimmte Phänomene der innovativen Entwicklungen, die innerhalb dieses Paradigmas nicht abgebildet sind und die sich auch nur schwer darin beschreiben lassen. Dazu gehört insbesondere, inwiefern nicht-disruptive, aber gleichwohl innovative mit bereits bestehenden, klassischen Konzepten interagieren und zu neuen Modellen synthetisiert werden.

Diese Indikation zielt auf weniger offensichtliche, hintergründige Entwicklungstendenzen ab. Sie erlaubt in der Folge aktuellere und aussagekräftigere Analysen, was die feineren Verästelungen der Entwicklungen und was die Veränderungen auch der bestehenden Marktstrukturen angeht. Dazu sind von den Marktteilnehmern allerdings bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen. Einerseits müssen sich innovative Produkte als in bestehende Prozesse integrierbare Angebote verstehen. Das erfordert eine andere als revolutionäre Haltung und eine Beschäftigung mit am Markt bestehenden Modellen. Andererseits müssen sich etablierte Prozesse als zerlegbar, offen und durch Agilität integrationsfähig erweisen. Für die hinter diesen Modellen stehenden Akteure liegt darin eine nicht minder große Herausforderung. Sie müssen im Rahmen des Innovationsmanagements ihre eigenen Modelle für Innovationen öffnen und sich mit dem Potential neuer Angebote sachlich beschäftigen.

Insgesamt wird mit diesem Integrations- oder Adaptions-Paradigma ein veränderter Blick auf die Marktentwicklungen möglich: weg von einzelnen Produkten hin zu Fragen der Integration dieser Produkte. Wenden sich innovative Produkte und Services stärker an etablierte Akteure? Gibt es Öffnungsbewegungen dieser Spieler hin zu neuen Konzepten? Werden diese in bestehende Angebote integriert? Steigt der Vernetzungsgrad von alten und neuen Modellen? Kommt es zu Interaktionen und Kooperationen zwischen Startups und Big Playern?

In der Konsequenz lässt sich aufseiten der innovativen Entwicklungen eine fortschreitende Ausdifferenzierung feststellen, in der sich der wachsende Reifegrad der Entwicklung widerspiegelt. Diese Ausdifferenzierung betrifft zum einen die Integration und Synthetisierung, indem sich innovative Produkte stärker als B2B-Lösungen für einzelne Prozessschritte verstehen. Zum andern bezieht sich die Ausdifferenzierung auf den Markt, indem Produkte Lösungen für ganz spezifische Probleme bieten oder speziellere Marktsegmente adressieren. Teilweise konstituieren diese Produkte sogar erst das entsprechende Marktsegment.

Im nächsten Teil werden wir den damit verbundenen Fragen hinsichtlich der konkreten Produkte und Services auf dem Markt für Finanzdienstleistungen nachgehen.

LITERATUR

 

David J. Teece, Profiting from technological innovation: Implications for integration, collaboration, licensing and public policy, in: Research Policy 15 (1986), S. 285-305.
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Clayton M. Christensen/Michael Overdorf, Meeting the Challenge of Disruptive Change, in: Harvard Business Review 78 (2000), S. 66-76.
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James Simmie/Juliet Carpenter et al., History Matters. Path dependence and innovation in British city-regions, 2008.
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Artur Burgardt

Artur Burgardt
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Artur Burgardt ist Managing Partner bei CORE und spezialisiert auf das Management agiler Umsetzungsprojekte in komplexen Kontexten. Als ausgebildeter theoretischer Physiker sammelte er erste Berufs...

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Artur Burgardt ist Managing Partner bei CORE und spezialisiert auf das Management agiler Umsetzungsprojekte in komplexen Kontexten. Als ausgebildeter theoretischer Physiker sammelte er erste Berufserfahrung als Business Analyst bei großen Finanzdienstleistern und erwarb grundlegende Kenntnisse in der Entwicklung von Kernbankensystemen. Dieser Karriereschritt führte ihn zu CORE. Mit seinem umfangreichen Wissen verantwortet Artur neben den Projekten bei Klient:innen das Knowledge Management bei CORE.

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